Rottweiler bauten Privat-Klosetts an den Stadtgräben
18.04.2017
Eine funktionierende Abwasser-Entsorgung ist gelebte Daseinsvorsorge: In der ältesten Stadt Baden-Württembergs ist die vom ENRW Eigenbetrieb Stadtentwässerung betriebene Kläranlage „In der Au“ für diese wichtige Aufgabe zuständig. Abseits des öffentlichen Bewusstseins verrichtet sie Tag für Tag ihre ungemein wichtige Arbeit. Genau vor hundert Jahren – 1917 – wurde in Rottweil die erste Kläranlage errichtet. Aus Anlass des Jubiläums soll die Geschichte der örtlichen Abwasserentsorgung in einer kleinen Serie vorgestellt werden. Der zweite Teil beschäftigt sich mit dem Mittelalter.
Mit dem Untergang des Römischen Reichs geriet die vielerorts hochentwickelte Abwasserentsorgung in Vergessenheit. Die meisten mittelalterlichen Städte Europas verfügten weder über eine Kanalisation, noch über Abwasseranlagen. Tierische oder menschliche Fäkalien, gewerbliche Abwässer sowie Haushaltsabfälle verunreinigten nahezu permanent das Trinkwasser, was letztlich zu wiederkehrenden Pest-, Pocken-, Cholera- und Typhus-Epidemien führte. Doch dieser Zusammenhang wurde bis zum Ende des 19. Jahrhunderts nicht erkannt. Als „Schuldige“ mussten vielmehr oftmals die jüdischen Mitbürger herhalten. Nachdem beispielsweise im Jahr 1348 einmal mehr die Pest wütete, warfen auch Rottweiler Bürger den ansässigen Juden vor, die Brunnen vergiftet zu haben. Da die Juden oft sehr auf Hygiene achteten, blieben sie oft von den Seuchen verschont. Dies machte sie „verdächtig“.
Für das mittelalterliche Rottweil wurden auf Basis archäologischer Funde gemauerte Schächte im Stadtkern nachgewiesen, welche seit dem späten 13. Jahrhundert als Abortgruben genutzt worden waren. Es handelte sich augenscheinlich um Grundwasserbrunnen, die ihr Wasser aus den gleichen Erdschichten bezogen, mit denen die Trinkwasserbrunnen in Verbindung standen. Laut Rottweils Stadtarchivar Gerald Mager leiteten die Rottweiler dem Geist der Epoche entsprechend Müll und Ausscheidungen in jede Art von Gewässer. Im Mittelalter vertrat man die Ansicht, dass die in das Grundwasser eingeleiteten Abwässer von der Erde „verdaut“ würden. In Rottweil wurden auch die zum Neckar führenden Gräben rings um die Stadtmauern wie beispielsweise der Nägelesgraben für diese Zwecke genutzt. Sehr zum Leidwesen der Stadtoberen erstellten zahlreiche Bürger darüber hinaus kleine Privat-Aborte an den Ringmauern und Gräben, um Gestank und Schmutz vor ihren Wohnstätten fernzuhalten.
Wer sich kein „Privat-Klosett“ leisten konnte, oder eine Möglichkeit der hausnahen Entsorgung bevorzugte, nahm Abortgruben hinter den Gebäuden in Anspruch, über denen sich kleine Baracken aus Brettern oder Mauersteinen befanden. Die Gruben durften nur nachts von den zuständigen Bannwarten geleert und gesäubert werden. Der Inhalt wurde mit Fuhrkarren zum Neckar gefahren. Nachts verrichteten die Menschen ihre Notdurft in Gefäße, deren Inhalt morgens nachweislich auf die Straße oder in den Hof des Nachbars geleert wurde. Und die ärmsten Stadtbewohner erledigten ihr Bedürfnis schlicht und einfach auf Misthäufen, wo man täglich auch die Hinterlassenschaften der Tiere entsorgte.
Nichtsdestotrotz gab es in Rottweil auch bereits einige oberirdische Kanäle – sogenannte „Dolen“ – für Abwasser und Unrat. Diese führten ihre unappetitliche Fracht mit dem Niederschlagswasser über Durchlässe in der Stadtmauer in den Neckar. Bei längeren Trockenphasen allerdings verwandelten sich diese Kanäle in stehende Kloaken, welche die zuständigen Bettelvögte und Brunnenmeister dann zu reinigen hatten.
Ab Mitte des 16. Jahrhunderts hielten die ersten Toiletten Einzug in Rottweil. Wie Gerald Mager berichtet, zeigt die Rottweiler Pürschgerichtskarte aus dem Jahr 1564 an der Rückseite einer Häuserzeile am heutigen Friedrichsplatz Toilettenerker am ersten Obergeschoss, der Wohnetage. Von den Erkern führten senkrechte Bretterverschalungen nach unten zu den Kanälen oder Gruben. Fazit: Bis die Stadt Rottweil über eine funktionierende Abwasserentsorgung verfügte, sollten noch einige Jahrhunderte vergehen.
Ausschnitt der sogenannten „Pürschgerichtskarte“ aus dem Jahr 1564. Sie zeigt hier Toiletten-Erker an der Häuserzeile östlich vom heutigen Friedrichsplatz.